„Petite Maman“ im Kino: Trampelpfade durch die Zeit (2024)

Zeitreisen sind gewöhnlich aufwendige Angelegenheiten. Man kann einen Fluxkompensator in einem DeLorean-Sportwagen einbauen und mit Plutonium betreiben wie in "Zurück in die Zukunft". Oder wie in dem Klassiker "Die Zeitmaschine" von 1960 einen Zeitschlitten für Gentlemen entwerfen, mit einem mit Intarsien verzierten Rotor, weinrotem Plüschsitz und großen Hebeln. Standardmotive sind auch Schleusen und Tunnel, dazu Kontrollräume, die an die Nasa erinnern. Hightech ist in jedem Fall vonnöten, außerdem sind Zeitreisen meistMännersache.

In Céline Sciammas "Petite Maman - Als wir Kinder waren" gibt es nichts davon, und Männer spielen im Film kaum eine Rolle. Ein vielleicht achtjähriges Mädchen, Nelly (Joséphine Sanz), verlässt das Haus seiner Großmutter, geht einem verschossenen Ball hinterher in den Wald, wo es auf ein gleichaltriges anderes Mädchen (Gabrielle Sanz) trifft, das ihm zum Verwechseln ähnlich sieht. Es heißt Marion wie Nellys Mutter. "Kannst du mir helfen?", fragt Marion, und Nelly trägt ganz selbstverständlich einen schweren Ast, der für den Bau einer Hütte gebrauchtwird.

Es braucht keine aufwendig konstruierten Maschinen für die Zeitreise - hier zaubert das Kino selbst

Dass hier etwas ganz und gar Fantastisches geschieht, Nelly ihrer eigenen Mutter als Kind begegnet, wird durch keinen Effekt "erklärt" oder auch nur kenntlich gemacht, dennoch begreift es Nelly ebenso intuitiv wie der Zuschauer. Ein großes Vertrauen ist bei den Mädchen zu spüren: in das, was da gerade geschieht und in die jeweils andere. Dass sie Mutter und Tochter sind, wird auch von Marion ohne jeden Zweifel akzeptiert. Dieses Vertrauen in die Richtigkeit der Begegnung überträgt sich. Sehr reizvoll ist das, das Allerungewöhnlichste wie das Allernormalste zusehen.

Der magische Realismus des Films entspringt den Bildern und Tönen und der Montage - hier zaubert das Kino selbst, aufwendig konstruierte Zeitmaschinen sind unnötig. Mit Bildern und Blicken hatte Céline Sciamma schon in ihrem sensationell schönen Film "Porträt einer jungen Frau in Flammen" von 2019 verführt, der von der Liebe zwischen einer Malerin und ihrem Modell erzählt, von patriarchalen Verhältnissen und den Möglichkeiten von Frauen darin. Sciamma bekam dafür unter anderem den Drehbuchpreis in Cannes, auf den nächsten Film der aufstrebenden Regisseurin war die Kinoweltgespannt.

Wer von ihr nun wieder eine leidenschaftliche Liebesgeschichte oder ein feministisches Panoramabild erwartet hat, ist von "Petite Maman" womöglich enttäuscht. Der Film ist viel stiller als sein Vorgänger, ein Kammerspiel, selbst wo er im Wald spielt. Der Blick geht nach innen. In der Zurückhaltung aber zeigt sich Sciammas Können. Wie genau sie die Kinderspiele studiert! Wie fein manche Dialoge den unausgesprochenen Schmerz der Erwachsenen offenlegen! Manche Bilder wirken wie Gemälde: eine trauernde Frau vor einem Fenster oder auch der Herbstwald, in dem die Kinder spielen. Dieser Wald ist gleichzeitig ganz normal und eine magische Bühne, wo Fantastisches selbstverständlich wirkt und scheinbar Banales besonders. In dieser realen Zauberlandschaft gibt es keine Straßen oder Dörfer, kein anderer Mensch ist zu sehen. Und jeder Trampelpfad führt zum Haus derGroßmutter.

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Wie schon "Porträt einer jungen Frau in Flammen" ist "Petite Maman" auch ein Geisterfilm. Nellys geliebte Oma war gerade gestorben, am Anfang des Films sehen wir, wie das Mädchen allen Bewohnerinnen eines Altenheims sehr aufmerksam "Auf Wiedersehen" sagt. Bei ihrer Großmutter hatte sie das versäumt. Nun sind Nelly und ihre Eltern zum Haus der Oma gefahren, um es auszuräumen - und Nelly kann in der Zeitschleife von ihrer Großmutter Abschied nehmen. Als junge Frau und Mutter von Marion ist sie wiederlebendig.

Damit erinnert "Petite Maman" an Jacques Doillons Trauerfilm "Ponette" 1996, der ebenfalls aus der Kinderperspektive von kindlicher Bewältigung des Todes erzählt. Die Zeitreisen der Mädchen in "Petite Maman" lassen sich jedoch nicht als reine Imagination und Trauerarbeit abtun. Nellys Vater (Stéphane Varupenne) kann die kindliche Marion - seine spätere Frau! - bei einer der Zeitreisen ebenfalls sehen, das ist dann doch ziemlich unheimlich. Dazu passt ein Geständnis der (erwachsenen) Marion (Nina Meurisse), als sie Nelly in ihrem alten Kinderzimmer ins Bett bringt: Tagsüber habe sie sich dort wohlgefühlt, aber nachts hätte sie sich gefürchtet vor dem Schatten eines Panthers vor ihremBett.

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Die Zwillinge Joséphine und Gabrielle Sanz spielen Nelly und ihre "kleine Mutter" - ein Glücksgriff

Es sind solche Dialoge oder auch die Erdnussflips, die Nelly auf dem Weg zur Oma mampft und der autofahrenden Mutter ebenfalls in den Mund stopft, die Marion mit ihrer Kindheit verbinden und Nellys Begegnung mit ihr in der Zeitschleife möglich machen. Die beiden Kinder werden, wunderbar natürlich, von den Zwillingen Joséphine und Gabrielle Sanz gespielt, und sind als Hauptdarstellerinnen ein Glücksgriff. Céline Sciamma lässt sich viel Zeit, den Mädchen bei ihren Abenteuern im Wald, beim Pfannkuchenbacken oder Theaterspiel zuzusehen. Es wird vielgelacht.

Die Besetzung mit Zwillingen ist dabei ein toller Kniff, das Ganze wird zum Vexierspiel. Nellys und Marions Gesicht scheinen sich immer wieder wie übereinanderzulegen, sie sind verschieden und erscheinen gleichzeitig als eins. Nach der Liebesbeziehung in "Porträt einer jungen Frau in Flammen" erzählt "Petite Maman" von einer gewissermaßen "vertikalen" Solidarität unter Frauen, dem Band von Müttern zu ihren Töchtern. Das Leben wird gern als Kreislauf beschrieben. Hier erscheint es alsStaffellauf.

Petite Maman , F, 2021 - Regie, Buch: Céline Sciamma. Kamera: Claire Mathon. Schnitt: Julien Lacheray. Musik: Jean-Baptiste de Laubier. Mit: Joséphine und Gabrielle Sanz, Nina Meurisse, Stéphane Varupenne, Margot Abascal. Verleih: Alamode, 73 Minuten. Kinostart: 17.03.2022.

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Author: Cheryll Lueilwitz

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